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Dass es nun Zeit ist zu intervenieren

Ich hatte das Flair von Hotellobbys schon immer gehasst. Diese akzentuierenden Pflanzen in den Ecken, die ausgesessenen aber luxuriös wirkenden Couches, Beistelltische mit glänzenden Glasflächen. Darunter Zeitschriften die eh niemand las. Diese Räume waren auf wohnlich getrimmt. Ihre Funktion war, den Ankommenden einen guten Eindruck zu vermitteln. Niemand hielt sich hier gerne auf. Das Klackern der Absätze meiner Lackschuhe hallte durch die Halle. Zielstrebig ging ich auf die Rezeption zu. Der Concierge hatte kurz aufgeblickt als ich eingetreten war. Nun starrte er konzentriert auf einen Bildschirm vor sich. Lange genug um mir das Gefühl zu geben nicht wichtig genug für seine volle Aufmerksamkeit zu sein. Diese Überheblichkeit würde ihm gleich vergehen. „Was kann ich für sie tun?“, fragte er endlich. Diese wenigen Worte drückten das gleiche wie die Geste mit dem Bildschirm aus. Er hatte es nicht gesagt. Er hatte es mehr geseufzt. „Scheidemann. Ich habe reserviert.“, sagte ich knapp und legte meine Aktentasche auf der Rezeption ab. Er zog wieder seinen Bildschirm zu rate. Ich wartete auf den Augenblick der nun kommen würde. Seine Augen huschten von rechts nach links. Offenbar las er eine Liste. Schließlich blieben sie auf einem Eintrag stehen. Seine Pupillen weiteten sich. Er quiekte beinahe, als er schnappend Luft einsog. „Herr Scheidemann! Entschuldigen sie, ich konnte ja nicht ahnen…“ Ich grinste. „Sparen wir uns das.“ Ich trommelte gespielt ungeduldig mit den Fingerkuppen auf seinem Tresen. „Suit 401.“ Er machte Anstalten einen Pagen herbeizuwinken, der in diskretem Abstand wartete. Ich streckte fordernd die Hand aus. „Danke. Ich finde das Zimmer schon.“ Er zögerte einen Moment, bevor er mir die Karte reichte. „Wie sie wünschen.“ Ich griff nach meiner Aktentasche und wandte mich um. „Einen angenehmen Aufenthalt!“, rief er mir hinterher.

Mein Gesicht spiegelte sich in der Armatur des Aufzugs. Ich hatte in den letzten Wochen einige Falten dazugewonnen. Surrend setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung, nachdem ich die Chipkarte durch das Lesegerät gezogen hatte. Ich warf einen zweiten Blick auf mein goldgefärbtes Spiegelbild. Bildete ich mir das nur ein, oder hatte ich tatsächlich Geheimratsecken bekommen? Ein dezentes pingen kündigte meine Ankunft im vierten Stock an. Direkt dem Fahrstuhl gegenüber lag der Eingang zu 401. Ich betrat den Raum und warf die Chipkarte in eine Schale auf einer Kommode. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Endlich Ruhe! Mit zügigen Schritten durchquerte ich den Raum und trat an die Balkontür. Sie war nicht verriegelt. Vor mir tat sich die Alster auf. Schwäne zogen ihre Bahnen durch das Wasser. Am Ufer tummelten sich trotz der fortgeschrittenen Tageszeit Touristen und Jogger. Diese Stadt änderte sich nie. Ich drehte mich um und musterte den Raum. Zur Schau gestellter Luxus. Vergoldete Armaturen, teurer Teppich, Hightech-Fernseher und Hifi-Anlage Ich durchschritt den Raum und öffnete die Minibar. Champagner, Softdrinks und tatsächlich das was ich gesucht hatte. Lokales Bier. Ich nahm die Flasche heraus und öffnete sie mit dem in den Kühlschrank integrierten Öffner. Es schmeckte köstlich. Ich nahm die Flasche mit und ging unter die Dusche.

Als ich zurück ins Wohnzimmer trat erwartete mich mein Gepäck. Es war nicht ins Schlafzimmer geräumt worden, sondern stand im Flur. Vermutlich eine kleine Revanche des Concierge. Ich packte meinen Laptop aus und entnahm der Aktentasche den kleinen grünen USB-Stick. Bevor ich den Laptop startete steckte ich ihn an das Gerät. Der Startbildschirm erschien und forderte mich auf das Passwort einzugeben. Ich tippte die fünfzehnstellige Kombination ein und schaute auf die Uhr. Mir blieben noch zweieinhalb Stunden. Genug Zeit um mich auf das Gespräch vorzubereiten. Schmunzelnd blickte ich auf die Daten vor mir auf dem Bildschirm. Sie waren ein Tor zur Vergangenheit. Ich spürte die Geschichte die sie erzählten fast körperlich. Sie war greifbar. Das hatte mich schon immer bewegt. Als Kind hatte ich viel im Wald gespielt. An einer Stelle nahe am Waldrand gab es einen ovalen Hügel. Mitten im ebenen Wald. Ich hatte ihn unzählige male erklommen und darauf gesessen. Von oben konnte man den Wald gut überblicken. Ein idealer Punkt um beim Verstecken spielen die anderen von weitem zu erspähen. Von dort konnte man auch die Senken im Wald sehen. Kleiner als der Hügel. Mehrere Meter tief. In einem hatten wir einmal Metallsplitter gefunden. Es hatte eine große Aufregung gegeben. Die Polizei war angerückt. Dann der Kampfmittelbeseitigungsdienst. Ein schweres Wort für ein Kind. Sie hatten nichts mehr zum beseitigen gefunden. Am Tag danach vergruben wir unsere Ausbeute in einem Versteck. Splitter britischer Bomben. Keine hatte das alte Hügelgrab getroffen. Was in ihm ruhte, ruhte dort weiter und verbreitete das Gefühl die Vergangenheit berühren zu können..

Hotellounges faszinierten mich. Wenn die Lobby eines Hotels dem Gast etwas vorspielen sollte, so war es die Lounge, die einem Gast etwas über das Hotel verriet. Die Beleuchtung, die Musik, die Stimmung der Gäste und der gebotene Service. Ich schmunzelte unwillkürlich als die automatische Tür vor mir aufglitt. Sofort stieg mir ein unverkennbarer Geruch in die Nase. Nicht belästigend, sondern angenehm. Ich roch Zigarren und mehrere Whiskynoten. Echten Whisky, nicht das Zeug aus dem Supermarkt. Das Licht war gedämmt. Die Lampen strahlten unaufdringliche Blautöne aus. Ein warmes Blau. Dunkle Sessel, Couches und Mahagonitische. Das Geräuschbett wurde von Pianoklängen getragen. Ich erkannte den Song bevor die Stimme einsetzte. Wie passend.


With your feet on the air
And your head on the ground
Try this trick and spin it, yeah
Your head’ll collapse
And there’s nothing in it
And you’ll ask yourself

Where is my mind?

Die Gespräche der anderen Gäste verloren sich darin. Das leise klirren von Glas aus Richtung der Theke passte sich ein und störte nicht. Ich nickte der Barkeeperin knapp zu und suchte mir eine abgelegene Sitznische von der aus ich die Tür im Auge behalten konnte. Eine alte, zur Routine gewordene Gewohnheit. Die Barkeeperin trat an meine Nische. „Kann ich Ihnen schon etwas bringen?“ Ich warf einen kurzen Blick auf die Flaschen über der Bar. „Sullivan. Pur. Ohne Eis.“ Sie lächelte und verschwand. Während sie die von mir anvisierte Flasche aus dem Regal hinter der Theke nahm, zog ich mein Netbook aus dem Etui. Das Licht des Bildschirms durchbrach das Beleuchtungskonzept. Schnell pegelte ich die Helligkeit herunter. Ich öffnete mehrere Dateien und versank erneut im Inhalt. Ein Schatz, keine Frage. Er würde unangenehme Fragen aufwerfen. Fragen, die sich Menschen stellen lassen mussten. Fragen, die auch ohne Antworten etwas zerstören und verändern konnten. Konnten? Würden, verbesserte ich mich gedanklich. Ein Schatten fiel auf mich. Die Barkeeperin stellte den Tumbler mit einem gedämpften Klirren auf dem Tisch ab, nickte mir zu und entschwand. Ich klappte das Netbook zu, lehnte mich zurück und lies die Geruchsnote auf mich wirken. Unverkennbar Eiche mit diesem gewissen tropischen Etwas. Ich benetzte die Lippen. Süßer Malz. Vorsichtig sog ich Luft ein. Da war es. Bitterschokolade. Kein anderer Whisky konnte das. Ich schloss genießerisch die Augen. Das sanfte Brennen im Rachen setzte ein. Die Barkeeperin hatte mich richtig eingeschätzt. Ich bewunderte sie dafür. Alles an mir schrie eigentlich danach, dass ich hier nicht hingehörte. Sie hatte dennoch keinen jungen Jahrgang gewählt. Dieser war mindestens 16 Jahre alt. Ich gönnte mir einen weiteren Schluck und schaute an mir herab. Das Sakko war an den Schultern einen Hauch zu breit und spannte an der Hüfte. Das Hemd war noch steif und die Anzughose im Schritt zu weit. Im Tumbler spiegelte sich mein Gesicht. Der Bart gestutzt, die Haare über die Geheimratsecken gekämmt. Vor einer halben Stunde auf dem Zimmer hatte ich es für einen klugen ironischen Zug gehalten die Sneakers anzuziehen. Nun kam ich mir unfassbar albern in ihnen vor. Dieses ganze Theater war unfassbar albern. Aber sie hatten es so gewollt. Sie ließen weiter auf sich warten. Nun, es gibt schlimmere Ort um auf Menschen zu warten die sich verspäten, dachte ich. Ein Schwall Erinnerungen raste vor meinem inneren Auge vorbei. Nächtliche Treffpunkte zu denen es nicht alle schafften, das aufsteigende Adrenalin, die mackerhaften Sprüche um die eigene Unsicherheit zu überspielen, schließlich die Aktion.

Diese Aktionen waren Teil der Daten, Teil der Vergangenheit die hier vor mir in Bytes gebannt auf dem Tisch lagen. Eine Vergangenheit, die ich nun mit anderen Teilen wollte. Das Surren der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Ich blickte auf. In der Tür stand eine Gestalt. Seine Konturen zeichneten sich wie ein Scherenschitt vor dem Licht aus der Lobby ab. Er war schlank und hochgewachsen. Hinter ihm entfernte sich ein flüchtiger Schatten. Vermutlich der Concierge, der ihn begleitet hatte. Ich wusste, dass ich nun für einen Moment im Vorteil war. Seine Augen mussten sich erst an das gedämmte Licht gewöhnen, bevor er mich im Raum lokalisieren konnte. Ich nutzte diesen Moment um mich aufzurichten und das Netbook wieder zu schließen. So würde er mich nicht sofort erkennen und ich hatte einen weiteren Moment um ihn zu mustern, während er in den Raum trat. Tatsächlich trat er einen Augenblick später nach vorne. Seine Kleidung irritierte mich. Er trug Sportschuhe, eine Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Auf seiner gewachsten Glatze spiegelte sich das Licht der Deckenleuchten. Um seine Schulter baumelte eine Umhängetasche aus einer recycelten LKW-Plane. Er passte eben so wenig hier her wie ich. Alles an ihm schrie gerade zu nach einem alternden Öko. Dieser Typ Mensch, der vor 30 Jahren auf Demos gegen die AKWs und Startbahn-West gegangen war und dort vielleicht im Tränengasnebel gestanden hatte. Oder in besetzten Häusern auf ewig langen Plenas über Refos und den richtigen Weg zum Kommunismus diskutiert hatte. Dann irgendwann waren andere Dinge wichtiger geworden. Erfolg im Job, die steigende Zahl auf dem Bankkonto. Das neue Leben erforderte Statussymbole. Die Lederjacke wich dem Sakko, der alte Toyota wurde durch einen Mercedes ersetzt. Ein energieneutrales Eigenheim oder ein Apartment mit Balkon statt der ranzigen Matratze in irgendeiner WG. Ich kannte diesen Typ Menschen. Im besten Fall waren sie Lehrer oder Anwälte geworden, waren ihren eigentlichen Idealen treu geblieben und setzten ihren Kampf für eine bessere Welt in ihrem neuen Leben auf anderen Ebenen und mit anderen Mitteln fort. Im schlechtesten Fall hatten sie ihre „wilde Zeit“ als eben das verstanden. Ein letztes jugendliches aufbäumen gegen die gesellschaftlichen Normen, denen sie sich schließlich aber unterwarfen. Diese Menschen fand man heute in einigen Vorstandsetagen, an Bankschaltern oder in Immobilienbüros. Dazwischen gab es eine bunte Palette aus Grautönen.

Immerhin, er passte zu der Zeitung für die er arbeitete. Sie war als linksalternatives und selbstverwaltetes Blatt gestartet und ihren Lesern treu geblieben. Sie war den Schritt zum Bürgertum mit ihren Lesern mitgegangen.

Der Mann trat an die Theke und tauschte ein paar Worte mit der Barkeeprin. Sie lächelte reserviert und nickte seine Bestellung ab. Er drehte sich um. Sein Blick wanderte ziellos durch den Raum. Er brauchte erstaunlich lange um mich zu entdecken. Schließlich nahm er seine Bestellung – Rotwein – entgegen und schlenderte betont lässig auf mich zu. „Felix Scheidemann?“, fragte er, als er auf Armeslänge an den Tisch herangetreten war. Seine Stimme hatte einen tiefen Bariton. Er brummte. Ich spürte seine Worte in meiner Brust vibrieren. Ich nickte und deutete mit dem Tumbler in meiner Hand auf den Sessel mir gegenüber. Er stellte seine Umhängetasche neben sich und ließ sich in den Sessel fallen. Sofort versank er darin, während seine langen Beine wie zwei abgeknickte Äste in die Höhe ragten. „Andreas Ernst“, wieder nur zwei Worte. Wieder ließ seine Stimme meine Brust vibrieren. Er reichte mir seine Hand über den Tisch. Während ich sie schüttelte bemerkte ich seinen gierigen Blick auf mein Netbook. „Ich hoffe sie hatten eine angenehme Reise.“, begann er den Smaltalk. „Euer Nahverkehr ist super. Ich war schnell hier.“, antwortete ich ihm und schwenkte dabei den Tumbler. „Hamburg ist nicht Berlin. Wir legen hier Wert darauf, dass sich Gäste wohl fühlen können. Ist dein Zimmer okay?“ Ich grinste. Er war ohne Stolpern auf „Du“ eingestiegen. „Ihr lasst euch das echt was kosten, oder?“, fragte ich. Wieder wanderte sein Blick auf den Laptop. „Ich weiß noch nicht ob es sich lohnt, aber die Leseproben waren für uns alle sehr verlockend. Und wir wollten doch vermeiden das es dabei ungewollte Aufmerksamkeit gibt.“ Ich nickte. „Deswegen habe ich mir auch erlaubt den Ort für dieses Treffen in letzter Minute zu ändern. Das hier-“ ich nickte in den Raum „-erschien mir angenehmer.“ Er lachte ein Baritonlachen. Ich wäre nicht verwundert gewesen, wenn es meinen Tumbler, der inzwischen wieder auf dem Tisch, stand zum wandern gebracht hätte. „Ein Konspiratives Treffen auf einem Hotelzimmer zur Übergabe von Daten wäre wohl auch ein bisschen zu Klischeehaft gewesen“, sagte er. Wieder das tiefe Lachen. Ich prostete ihm zu und nahm einen letzten Schluck Whisky. „Dann will ich dir doch mal zeigen wofür deine Redaktion so viel Spesen locker macht.“, sagte ich und klappte das Netbook auf. Er richtete sich gespannt im Sessel auf. Ich tippte das Passwort ein und drehte ihm das Gerät zu. „Schau es dir an. Lass dir Zeit.“ Ich lehnte mich zurück. Der Blick der Barkeeperin hinter der Theke verweilte einen Moment auf meinem leeren Glas. Sie blickte mich fragend an. Ich nickte. Der Journalist versank in den Daten. Er scrollte sich durch die Listen. Seine Augen wanderten über die Namen, Adressen und Verweise. Zwischen seinen Augenbrauen entstand eine vertikale Falte, die sich bis weit auf die Stirn fortsetzte. Ich sah ihm die Aufregung an, die er zu verstecken suchte. Gerade als vor mir ein frischer Tumbler abgestellt wurde, hörte er auf zu scrollen. Ich sah, wie er das Tastenkürzel für die Suchfunktion verwendete und einige Begriffe eintippte. Das Ergebnis ließ ihn schließlich aufblicken. Er blickte mir tief in die Augen. Die Falte war zu einem tiefen Canyon geworden, die seine Stirn förmlich spaltete. „Nun, das ist tatsächlich beeindruckend.“, sagte er und lehnte sich wieder zurück. „Wir haben deinen Proben hinterher recherchiert. Die Experten wurden sehr hibbelig“ Er hatte das Wort Experten mit einem Hauch Ironie ausgesprochen. Ich fragte mich wer diese vermeintlichen Experten sein sollten. Es gab eine Überschaubare Anzahl von Menschen die sich mit der Thematik auskannten und die für diese Tageszeitung erreichbar waren. Den Großteil kannte ich durch die langjährige Arbeit. Ich konnte mir vorstellen das diese Informationen für sie „Neuland“ waren. Den Sachverstand die Daten einzuordnen konnte ich ihnen aber nicht absprechen. Einige von ihnen hatten sogar unbewusst zu diesem Treffen beigetragen. Ich musste grinsen. Andreas blickte mich fragend an. Faszinierend, ich baute unbewusst eine Bindung zu diesem Mann auf. Seine Art war vertrauenerweckend. „Ich sollte dich jetzt wohl fragen wie du an diese Informationen gekommen bist.“, sagte er. Ich verschaffte mir eine kurze Pause indem ich an meinem Whisky nippte. „Aber du kennst die Antwort schon?“, fragte ich zurück. Nun war er es, der sich einen Augenblick Bedenkzeit verschaffte während er sein Glas schwenkte und einen Schluck trank. Dieses Spiel begann mir zu gefallen. Es erinnerte mich an einen Theaterauftritt vor vielen Jahren. Ursprünglich sollte ich in einer Schulaufführung von „Ernst und Falk“ die Rolle des Erzählers übernehmen. Meine Aufgabe sollt es sein die beiden Protagonisten zu charakterisieren und die Zeit zwischen den Gesprächen der beiden mit kurzen Anmerkungen zu überbrücken. Nachdem sich der Darsteller des „Falk“ in den letzten Tagen vor der Aufführung zu einem Roadtrip nach Spanien abgesetzt hatte, musste ich in seine Rolle schlüpfen. Den Text hatte ich schnell auswendig gelernt und könnte ihn auch heute noch rezitieren. Aber mir fehlte die moralische Aura um den Dialog zwischen dem älteren Logenmitglied Falk und dem jungen Ernst das gewisse etwas zu geben. Außerdem war mir die Haltung des Ernst, dass es nicht die Logenmitgliedschaft sei, sondern die Grundwerte und ihre Art sie zu leben wesentlich sympathischer. Ich passte nicht in die Rolle und vergeigte den Auftritt gewaltig. Aber ich erkannte mich selbst und lernte dadurch etwas für mich.
Bei diesem Treffen schien es ähnlich zu sein, Wir beide spielten Rollen für die wir nicht vorgesehen waren. Aber wie wir uns in ihnen bewegten sagte etwas über uns aus. Im stillen dankte ich nun unserem damaligen Theaterpädagogen für diese späte Erkenntnis. Sein Versuch uns an eine gewisse moralische Handlungsweise heranzuführen hatte bei mir nach mehr als 30 Jahren etwas bewirkt. Ich erinnerte mich an die Widmung, die Lessing dem Dialog vorweg gestellt hatte. Sie gehörte damals zu den ersten Texten die ich auswendig gelernt hatte.

Auch ich war an der Quelle der Wahrheit und schöpfe. Wie tief ich geschöpft habe, kann nur der beurteilen, von dem ich die Erlaubnis erwarte, noch tiefer zu schöpfen. Das Volk lechzet schon lange und vergehet vor Durst bereits einen Hinweis auf die gesellschaftspolitische Relevanz unseres Handelns“, murmelte ich leise.

Andreas blickte von seinem Rotwein Glas auf und musterte mich amüsiert. „Du kommst mir mit Lessing?“ Ich antwortete ihm nicht.

Nach einem Moment Stille sprach er wieder. „Natürlich haben wir uns gefragt woher diese Informationen kommen. Es gibt da nur drei Möglichkeiten. Insiderinformationen, Nachrichtendienstliche Erkenntnisse oder der politische Gegner.“ Er musterte mich aufmerksam während er sprach. „Wir haben versucht die Herkunft der Informationen zurück zu verfolgen, aber sind gescheitert.“ Ich lächelte. „Es beruhigt mich das zu hören“, begann ich. „Unsere Arbeitsweise lebt davon keine große Aufmerksamkeit auf uns und unsere Methoden zu lenken.“ Ich nippte erneut am Tumbler. „Zumindest so lange, bis wir uns entschließen damit an die Öffentlichkeit zu treten.“ Andreas sagte nichts. Stattdessen zog er einen Notizblock aus der Tasche. „Offenbar ist dieser Zeitpunkt nun gekommen. Wir als Redaktion haben uns aber trotzdem gefragt warum diese Informationen erst jetzt veröffentlicht werden sollen. Offensichtlich ist das ja das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit.“ Ich rutschte unangenehm berührt auf meiner Couch umher. „Ende 2011 und im folgenden Jahr gab es viel Kritik an den staatlichen Behörden. Der gleiche Vorwurf wurde nach einiger Zeit aber auch uns gemacht. Deine Zeitung war da ganz vorne mit dabei. Wie ihr recherchiert habt, war ja nicht nur der Verfassungsschutz sehr nahe am Nationalsozialistischen Untergrund dran. Auch einige Antifa-Gruppen hatten den Thüringer Heimatschutz im Visier. Auch das untertauchen der drei Menschen von dem nun als NSU gesprochen wird, ist ihnen ja nicht verborgen geblieben. Indirekt war euer Vorwurf damals ja, dass diese Antifa-Gruppen nicht die Behörden informiert hätten oder damit an die Öffentlichkeit gegangen sind. Diese Kritik haben wir angenommen. Mittlerweile ist einigen Medien ja aufgefallen das es nicht nur 3, sondern fast 300 untergetauchte Nazis in Deutschland gibt. Da jedes mal Alarm zu schlagen wenn ein Nazi abtaucht kann wohl kaum Aufgabe von ehrenamtlich engagierten Menschen sein. Wir haben den laufenden NSU-Prozess und die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse aufmerksam verfolgt und befunden das es nun Zeit ist zu intervenieren.“ Andreas schrieb meine Ausführung mit. „Wie seid ihr denn an diese Daten gekommen?“, fragte er nachdem er zu Ende geschrieben hatte. „Über die Methoden die wir benutzt haben möchte ich nichts sagen.“ Mein gegenüber lächelte milde. Ich befand das es nun Zeit war das Gespräch in eine Richtung zu lenken die ich bestimmte. „Zum weiteren vorgehen hatten wir uns gedacht, dass du und ich in den nächsten Tagen die Daten einmal gemeinsam durcharbeiten und offene Fragen klären. Deine Redaktion kann dann selber entscheiden was sie detaillierter nach recherchieren will. Uns ist nur wichtig das alle Daten an einer Stelle als Archiv abrufbar sind.“ Andreas prostete mir zustimmend mit seinem fast leeren Weinglas zu.

Das rhythmische vibrieren meines neu gekauften Handys riss mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Das Handy war noch auf Werkseinstellungen eingestellt. Ich war noch nicht dazu gekommen es von den nervigen Signaltönen zu befreien. Müde tapste ich durch das Hotelzimmer zum Balkon. Der gedämpfte Stadtlärm drang durch die geöffnete Balkontür in den Raum. Das piepen eines zurücksetzenden LKWs überlagerte die Gespräche der Menschen unter mir auf der Straße. Die morgendliche Sommersonne verwandelte die Binnenalster in eine glitzerndes Mosaik, dass sich vor mir auftat.

Der Portier musterte mich skeptisch, als ich eine halbe Stunde später im Trainingsanzug über den roten Teppich lief und mich am Gelände auf der anderen Straßenseite aufwärmte. Gegen Mittag hatte ich mich erneut mit Andreas verabredet um wenigstens einmal gemeinsam die gesammelten Daten durchzugehen. Die Zeit bis dahin wollte ich sinnvoll nutzen, statt im Hotel auf ihn zu warten. Ich dehnte meinen Beine an einem Geländer und ließ meinen Blick dabei über die Alster wandern. Ein junges Pärchen in Sportkleidung saß auf einer Bank zu meiner rechten. Das helle Lachen der Frau hallte zu mir herüber. Ich begann meine Laufrunde in dem ich die Alster nach Norden hochjoggte. Trotz der frühen Tageszeit war schon viel los. Immer wieder musste ich Familien mit Kinderwagen und Touristen ausweichen. Erst als ich die Esplanade überquert hatte und am Teich neben dem CCH vorbei joggte kam ich in meinen üblichen Rhythmus. Trotz der starken Veränderung der Stadt in den letzten Jahren fühlte ich mich zu Hause. An beinahe jeder Ecke kamen mir Erinnerungen an die vergangenen Jahre. Am anderen Ende des Parks angekommen wechselte ich die Straßenseite und bog in den Schanzenpark ab. Es fühlte sich gut an sich zu bewegen und die Lunge vom Rauch des letzten Abends zu befreien. In mir stieg das gewohnte Hochgefühl auf. Mein Körper begann Hormone abzusondern um mich für die sportliche Betätigung zu belohnen. Trotzdem ließ mich das Gefühl nicht los etwas übersehen zu haben. Irgendetwas stimmte nicht. Als ich den S-Bahnhof Sternschanze erreichte blieb ich stehen und dehnte mich. Das unbestimmte Gefühl ließ mich nicht los. Es wurde stärker. Ich zermarterte mir das Hirn. Lag es einfach an diesem Ort, der für mich mit so vielen unterschiedlichen Erinnerungen und Gefühlen aufgeladen war, oder war es etwas anderes? Beunruhigt sah ich mich um. Um mich herum bewegte sich das übliche Schanzenpublikum für diese Uhrzeit. Studenten auf dem Weg zur Uni, Bohemiens auf dem Weg zum überteuerten Frühstück in Cafes, die arbeitende Bevölkerung auf dem Weg zur Arbeit oder zurück ins Bett. Gegenüber der Bushaltestelle saß ein Punk mit einem selbstgemalten Schild mit der Aufschrift: „Brauche Geld für Gras“. Während ich verweilte warfen ihm einige Vorbeikommende grinsend etwas in seinen Klingelbecher. Nirgendwo entdeckte ich etwas das mein ungutes Gefühl rechtfertigte. Ich setzte meinen Weg zum Schulterblatt fort.Langsam spürte ich die wohltuhende Erschöpfung des Läufers in mir aufsteigen. Die unregelmäßigen und immer wieder erneuerten Pflastersteine unter meinen Füßen forderten ihren Tribut an meine Oberschenkel. Ich schmunzelte bei dem Gedanken daran wie viele davon ich selbst in den vergangenen Jahrzehnten ausgebuddelt und durch die Luft befördert hatte. Eine Stimme hinter mir riss mich aus meinen Gedanken. „Hey Sie!“ Die Stimme wiederholte ihren Ruf. Ich stoppte und drehte mich um. Ich prallte gegen etwas massives und geriet ins straucheln. Vor meinen Augen tanzten helle Lichtflecke. Meine Ohren pochten. Plötzlich überkam mich ein starkes Schwindelgefühl. „Hey, sachte!“ Eine kräftige Hand griff mich an der Schulter und stützte mich. Die tanzenden Lichtpunkte verflüchtigten sich. Ich sah in ein jugendliches Gesicht. Etwas drückte in meinen Rücken. „Ist alles in Ordnung?“, fragte das Gesicht. „Ja“, wollte ich sagen. Aber was war eigentlich geschehen? Mein Hirn konnte die Abläufe der vergangenen Sekunden nicht in eine logische Abfolge bringen. Wieso sorgte sich die Person um mich? „Sie sehen blass aus“, sagte es nun. Ich spürte wie sich der merkwürdige Druck in meinem Rücken in Richtung meines Steiß verlagerte. Ein zweites Gesicht tauchte in meinem Blickfeld auf. Beide wirkten irgendwie vertraut. Ihre Konturen schienen von weiter hinten beleuchtet zu werden. Ihre Umrisse strahlten beinahe. Ich blinzelte krampfhaft. Meine Augen versuchten den strahlenden Hintergrund scharf zu stellen, scheiterten aber daran. Lediglich ein kleiner olivgrüner Punkt über dem kleineren der beiden Gesichter ließ sich fokussieren. Mein Gedächtnis versuchte den Punkt einem bekannten Objekt zuzuordnen. Ich spürte den Griff an meiner Schulter lockerer werden. Gerade als die Hand über meinen Oberarm zu wandern schien, kam mein Gehirn zu einem Ergebnis. Straßenlaterne. Die Hand auf meinem Oberarm schien ihren Druck wieder zu verstärken. Nun kniff sie mich. Gerade als ich mich darüber empören wollte, lieferte mein Kopf eine Analyse. Der Punkt über dem vertrauten Gesicht war eine Straßenlaterne, das helle Leuchten die Hamburger Morgensonne. Ergo starrte ich in den Himmel. Ich musste auf dem Boden liegen. Der Druck an meinem Steiß schien vom Bordstein zu kommen. Ich war gestürzt und die beiden Personen die zu den Gesichtern gehörten hatten mch aufgefangen. Mein Mund formte Wörter. Aber meine Stimme wollte mir nicht gehorchen. Ich konnte nicht mehr sprechen! Ich spürte einen Stich an der Stelle an der eben noch die Hand gewesen war. Ich wollte sie abschütteln, aber meine Arme gehorchten mir nicht mehr. Hilflos starte ich die Gesichter an. Sie sagten etwas das meine Ohren nicht mehr erreichte. Meine Augen weiteten sich. In mir stieg grenzenlose Panik auf. Während das Licht um die beiden Gesichter schwächer wurde, lieferte mein Hirn eine weitere Erkenntnis. Es war das junge Pärchen von vor dem Hotel, dass sich über mich beugte. Das Sichtfeld vor mir wurde dunkler und kleiner. Offenbar verweigerten nun auch meine Augen den Dienst. Das letzte was ich bewusst sah, war ein länglicher Gegenstand mit einer langen Spitze, der im restlichen Licht aufblitzte. Dunkelheit umgab mich.

Zehn Stunden zuvor.

Ich habe die Daten. Aber wir gehen sie morgen nochmal gemeinsam durch.“, sagte die tiefe Stimme. „Sehr gut. Seht zu das die Spesenrechnung nicht ins unendliche wächst, okay?“, sagte die andere Stimme. „Geht klar, Chefin! Gute Nacht.“

Der Mann im 20 Kilometer entfernten Zimmer nahm das Headset ab und winkte die anderen heran. „Die Übergabe ist erfolgt. Gruppe 1 kann mit der Operation starten. Gruppe 2 startet morgen früh nach Plan. Und denkt verdammt nochmal daran das es diesmal sauberer läuft.“

WIR TRAUERN UM UNSEREN ENGAGIERTEN KOLLEGEN ANDREAS ERNST, DER SO PLÖTZLICH AUS UNSER ALLER LEBEN SCHIED. UNSERE GEDANKEN UND UNSER MITGEFÜHL SIND IN DIESEN SCHWEREN STUNDEN BEI SEINEN ANGEHÖRIGEN.

ANDREAS, WIR VERMISSEN DICH.

Der Mann blätterte die Zeitung durch. Kein weiterer Artikel. Nur der Nachruf. Die Botschaft war angekommen. Zufrieden warf er einen letzten Blick auf das Hotel an der Alster bevor er in seinen Wagen stieg. Die ersten Regentropfen breiteten sich auf der Windschutzscheibe aus. Er betätigte den Hebel neben dem Lenkrad um den Scheibenwischer zu starten. Auf dem Beifahrersitz lag auf einer Aktentasche ein Netbook und ein USB-Stick. Er drehte den Zündschlüssel bis zum Anschlag und parkte aus. Der Wagen rollte parallel zur Alster die Straße hinauf. Er betätigte den Blinker und bog auf den Autobahnzubringer ab.

[UPDATE] 3 Tote im Umfeld der NSU-Aufklärung oder: Eine Geschichte von Zu- und Einzelfällen

Zufälle und Einzelfälle. Diese beiden Vokabeln tauchen erstaunlich häufig in Berichten rund um den NSU auf. Das ein Mitarbeiter und V-Mannführer zur Tatzeit im Internetcafé sitzt, während der NSU den Besitzer erschießt? Ein Zufall. Das Beamte rund um die offenbar vom NSU ermordete Polizistin Mitglieder des Ku-Klux-Klan waren? Einzelfälle. Auch die anderen NSU-Morde wurden lange als Einzelfälle und nicht als zusammenhängende Mordserie gewertet. Ein Konvoi mit Akten, der von Thüringen nach Berlin geschickt wurde, damit sie nicht verschwinden, sollte aufgehalten werden.

Diese Liste ließe sich noch eine ganze weile so fortsetzen.

Aber auch an einer anderen Stelle riecht es braun. Nach dem auffliegen der „singulären Vereinigung“, so beschreibt die Bundesstaatsanwaltschaft das „Terror-Trio“, sterben Menschen rund um die Aufklärung.

Im September 2013 soll der ehemalige Nazi „Florian H.“ in seinem Auto Selbstmord begangen haben.

Der Spiegel schreibt dazu:

Am Tag seines Todes war Florian H. mit Beamten des Stuttgarter Landeskriminalamts verabredet, um über seine möglichen Kenntnisse auszusagen. Wegen dieses Zusammenhangs sagt sein Vater nun vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Stuttgarter Landtags aus. Das Gremium hat drei Sitzungstage für den Fall angesetzt, neben der Familie H. sagen auch Freunde, Ermittler, Mediziner und ein Feuerwehrmann aus. Vater H. ist sich sicher: „Suizidal war mein Sohn nicht.“ Er berichtet von Drohanrufen, die Florian bekommen habe, einer kurz vor seinem Tod habe ihn besonders aufgewühlt. Und als es einmal um den NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München ging, habe Florian gesagt: Der Prozess sei eine Farce, solange nicht bestimmte Personen aus der rechten Szene Baden-Württembergs mit auf der Anklagebank säßen.

Auch der V-Mann Thomas Richter alias „Corelli“, der unter anderem dem Verfassungsschutz Hamburg eine CD mit Informationen zu „NSDAP/NSU“ zukommen lassen haben soll, und zwei mal vom BKA verhört wurde, starb kurz vor einer dritten Vernehmung. Zuvor war er vor allem durch fragwürdige Aussagen aufgefallen 
Todesursache soll unerkannter Diabetes, bzw. ein Diabetischer Schock gewesen sein.

Heute wurde nun bekannt das es einen dritten Todesfall gegeben haben soll. Die Ex-Freundin des 2013 verstorbenen Florian H. wurde heute tot aufgefunden. Laut einer Meldung von Spiegel Online soll sie an einem Krampfanfall gelitten haben. Zuvor hatte sie im BaWü-NSU-Untersuchungsausschuss ausgesagt und darauf gedrängt die lokalen Verbindungen der Nazi-Szene genauer zu beleuchten. Ihre Motivation für die Aussage dort war, dass sie sich bedroht gefühlt habe. Auch ihr Ex-Freund hatte das vor seinem Tod geäußert. Seine Familie hatte vor einigen tagen im Autowrack des verstorbenen meherere Beweismittel gefunden, die die Polizei übersehen hatte.
(Pressemitteilung von Polizei und Staatsanwaltschaft zum Tod)

Update 30.03,2015 13:50 Uhr
Mittlerweile liegt im Fall der tot aufgefundenden Zeugin der Obduktionsbericht vor.
Todesursache soll eine Lungenembolie gewesen sein. Die Gerichtsmedizin erklärt diese durch die Folge eines gewanderten Thrombus in Folge eines Hämatoms nach einem Motorradunfall.  Die Polizei Karlsruhe berichtet zudem dass sich die Frau nach dem leichten Unfall bei geringer Geschwindigkeit in ärztliche Behandlung begeben habe und dort auch Thromboseprophylaxen durchgeführt wurden.

Die Ergebnise einer toxischen Untersuchung, also nach möglichen Giftstoffen steht noch aus.

Disclaimer: Mir geht es bei diesem Blogpost nicht darum Verschwörungstheorien anzufeuern. Ich erspare mir hier auch Mutmaßungen. Der bisherige öffentliche Umgang mit der „Causa NSU“ hat mir gezeigt, dass viele Puzzleteile rund um die Aufklärung und Hintergründe immer wieder in Vergessenheit geraten. Die hier aufgeführten Ergänzungen rund um die 3 Todesfälle sind mit entsprechenden Quellen versehen.

 

Schreibübung oder eigenständiger Text?

Ich hatte das Flair von Hotellobbys schon immer gehasst. Diese akzentuierenden Pflanzen in den Ecken, die ausgesessenen aber luxuriös wirkenden Couches, Beistelltische mit glänzenden Glasflächen. Darunter Zeitschriften die eh niemand las. Diese Räume waren auf wohnlich getrimmt. Ihre Funktion war, den Ankommenden einen guten Eindruck zu vermitteln. Niemand hielt sich hier gerne auf. Das Klackern der Absätze meiner Lackschuhe hallte durch die Halle. Zielstrebig ging ich auf die Rezeption zu. Der Concierge hatte kurz aufgeblickt als ich eingetreten war. Nun starrte er konzentriert auf einen Bildschirm vor sich. Lange genug um mir das Gefühl zu geben nicht wichtig genug für seine volle Aufmerksamkeit zu sein. Diese Überheblichkeit würde ihm gleich vergehen. „Was kann ich für sie tun?“, fragte er endlich. Diese wenigen Worte drückten das gleiche wie die Geste mit dem Bildschirm aus. Er hatte es nicht gesagt. Er hatte es mehr geseufzt. „Scheidemann. Ich habe reserviert.“, sagte ich knapp und legte meine Aktentasche auf der Rezeption ab. Er zog wieder seinen Bildschirm zu rate. Ich wartete auf den Augenblick der nun kommen würde. Seine Augen huschten von rechts nach links. Offenbar las er eine Liste. Schließlich blieben sie auf einem Eintrag stehen. Seine Pupillen weiteten sich. Er quiekte beinahe, als er schnappend Luft einsog. „Herr Scheidemann! Entschuldigen sie, ich konnte ja nicht ahnen…“ Ich grinste. „Sparen wir uns das.“ Ich trommelte gespielt ungeduldig mit den Fingerkuppen auf seinem Tresen. „Suit 401.“ Er machte Anstalten einen Pagen herbeizuwinken, der in diskretem Abstand wartete. Ich streckte fordernd die Hand aus. „Danke. Ich finde das Zimmer schon.“ Er zögerte einen Moment, bevor er mir die Karte reichte. „Wie sie wünschen.“ Ich griff nach meiner Aktentasche und wandte mich um. „Einen angenehmen Aufenthalt!“, rief er mir hinterher.

Mein Gesicht spiegelte sich in der Armatur des Aufzugs. Ich hatte in den letzten Wochen einige Falten dazugewonnen. Surrend setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung, nachdem ich die Chipkarte durch das Lesegerät gezogen hatte. Ich warf einen zweiten Blick auf mein goldgefärbtes Spiegelbild. Bildete ich mir das nur ein, oder hatte ich tatsächlich Geheimratsecken bekommen? Ein dezentes pingen kündigte meine Ankunft im vierten Stock an. Direkt dem Fahrstuhl gegenüber lag der Eingang zu 401. Ich betrat den Raum und warf die Chipkarte in eine Schale auf einer Kommode. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Endlich Ruhe! Mit zügigen Schritten durchquerte ich den Raum und trat an die Balkontür. Sie war nicht verriegelt. Vor mir tat sich die Alster auf. Schwäne zogen ihre Bahnen durch das Wasser. Am Ufer tummelten sich trotz der fortgeschrittenen Tageszeit Touristen und Jogger. Diese Stadt änderte sich nie. Ich drehte mich um und musterte den Raum. Zur Schau gestellter Luxus. Vergoldete Armaturen, teurer Teppich, Hightech-Fernseher und Hifi-Anlage Ich durchschritt den Raum und öffnete die Minibar. Champagner, Softdrinks und tatsächlich das was ich gesucht hatte. Lokales Bier. Ich nahm die Flasche heraus und öffnete sie mit dem in den Kühlschrank integrierten Öffner. Es schmeckte köstlich. Ich nahm die Flasche mit und ging unter die Dusche.

Als ich zurück ins Wohnzimmer trat erwartete mich mein Gepäck. Es war nicht ins Schlafzimmer geräumt worden, sondern stand im Flur. Vermutlich eine kleine Revanche des Concierge. Ich packte meinen Laptop aus und entnahm der Aktentasche den kleinen grünen USB-Stick. Bevor ich den Laptop startete steckte ich ihn an das Gerät. Der Startbildschirm erschien und forderte mich auf das Passwort einzugeben. Ich tippte die fünfzehnstellige Kombination ein und schaute auf die Uhr. Mir blieben noch zweieinhalb Stunden. Genug Zeit um mich auf das Gespräch vorzubereiten. Schmunzelnd blickte ich auf die Daten vor mir auf dem Bildschirm. Sie waren ein Tor zur Vergangenheit. Ich spürte die Geschichte die sie erzählten fast körperlich. Sie war greifbar. Das hatte mich schon immer bewegt. Als Kind hatte ich viel im Wald gespielt. An einer Stelle nahe am Waldrand gab es einen ovalen Hügel. Mitten im ebenen Wald. Ich hatte ihn unzählige male erklommen und darauf gesessen. Von oben konnte man den Wald gut überblicken. Ein idealer Punkt um beim Verstecken spielen die anderen von weitem zu erspähen. Von dort konnte man auch die Senken im Wald sehen. Kleiner als der Hügel. Mehrere Meter tief. In einem hatten wir einmal Metallsplitter gefunden. Es hatte eine große Aufregung gegeben. Die Polizei war angerückt. Dann der Kampfmittelbeseitigungsdienst. Ein schweres Wort für ein Kind. Sie hatten nichts mehr zum beseitigen gefunden. Am Tag danach vergruben wir unsere Ausbeute in einem Versteck. Splitter britischer Bomben. Keine hatte das alte Hügelgrab getroffen. Was in ihm ruhte, ruhte dort weiter und verbreitete das Gefühl die Vergangenheit berühren zu können..

Hotellounges faszinierten mich. Wenn die Lobby eines Hotels dem Gast etwas vorspielen sollte, so war es die Lounge, die einem Gast etwas über das Hotel verriet. Die Beleuchtung, die Musik, die Stimmung der Gäste und der gebotene Service. Ich schmunzelte unwillkürlich als die automatische Tür vor mir aufglitt. Sofort stieg mir ein unverkennbarer Geruch in die Nase. Nicht belästigend, sondern angenehm. Ich roch Zigarren und mehrere Whiskynoten. Echten Whisky, nicht das Zeug aus dem Supermarkt. Das Licht war gedämmt. Die Lampen strahlten unaufdringliche Blautöne aus. Ein warmes Blau. Dunkle Sessel, Couches und Mahagonitische. Das Geräuschbett wurde von Pianoklängen getragen. Ich erkannte den Song bevor die Stimme einsetzte. Wie passend.


With your feet on the air
And your head on the ground
Try this trick and spin it, yeah
Your head’ll collapse
And there’s nothing in it
And you’ll ask yourself

Where is my mind?

Die Gespräche der anderen Gäste verloren sich darin. Das leise klirren von Glas aus Richtung der Theke passte sich ein und störte nicht. Ich nickte der Barkeeperin knapp zu und suchte mir eine abgelegene Sitznische von der aus ich die Tür im Auge behalten konnte. Eine alte, zur Routine gewordene Gewohnheit. Die Barkeeperin trat an meine Nische. „Kann ich Ihnen schon etwas bringen?“ Ich warf einen kurzen Blick auf die Flaschen über der Bar. „Sullivan. Pur. Ohne Eis.“ Sie lächelte und verschwand. Während sie die von mir anvisierte Flasche aus dem Regal hinter der Theke nahm, zog ich mein Netbook aus dem Etui. Das Licht des Bildschirms durchbrach das Beleuchtungskonzept. Schnell pegelte ich die Helligkeit herunter. Ich öffnete mehrere Dateien und versank erneut im Inhalt. Ein Schatz, keine Frage. Er würde unangenehme Fragen aufwerfen. Fragen, die sich Menschen stellen lassen mussten. Fragen, die auch ohne Antworten etwas zerstören und verändern konnten. Konnten? Würden, verbesserte ich mich gedanklich. Ein Schatten fiel auf mich. Die Barkeeperin stellte den Tumbler mit einem gedämpften Klirren auf dem Tisch ab, nickte mir zu und entschwand. Ich klappte das Netbook zu, lehnte mich zurück und lies die Geruchsnote auf mich wirken. Unverkennbar Eiche mit diesem gewissen tropischen Etwas. Ich benetzte die Lippen. Süßer Malz. Vorsichtig sog ich Luft ein. Da war es. Bitterschokolade. Kein anderer Whisky konnte das. Ich schloss genießerisch die Augen. Das sanfte Brennen im Rachen setzte ein. Die Barkeeperin hatte mich richtig eingeschätzt. Ich bewunderte sie dafür. Alles an mir schrie eigentlich danach, dass ich hier nicht hingehörte. Sie hatte dennoch keinen jungen Jahrgang gewählt. Dieser war mindestens 16 Jahre alt. Ich gönnte mir einen weiteren Schluck und schaute an mir herab. Das Sakko war an den Schultern einen Hauch zu breit und spannte an der Hüfte. Das Hemd war noch steif und die Anzughose im Schritt zu weit. Im Tumbler spiegelte sich mein Gesicht. Der Bart gestutzt, die Haare über die Geheimratsecken gekämmt. Vor einer halben Stunde auf dem Zimmer hatte ich es für einen klugen ironischen Zug gehalten die Sneakers anzuziehen. Nun kam ich mir unfassbar albern in ihnen vor. Dieses ganze Theater war unfassbar albern. Aber sie hatten es so gewollt.

Auf der Suche nach dem eigenen Stil

Seit ein paar Wochen bin ich vermehrt auf der Suche nach dem eigenen Schreibstil. Schreibstil – ein komisches Wort. Wenn ich mir meine früheren Texte anschaue, dann sehe ich da eine Entwicklung. Von den ganz frühen Texten vor mehr als 10 Jahren bis heute hat sich einiges verändert.  Vor allem natürlich der Wortschatz. Aber auch die Art Objekte und Emotionen zu beschreiben. Vor allem in Prosa.

Im Text „Es ist die Wut, die wir teilen…“ habe ich eine bewusst einfache Sprache verwendet und möglichst auf langatmige Beschreibungen verzichtet. Gerade deswegen wirken die Charaktere aber sehr oberflächlich. Ihnen fehlen eigene Gedanken, eigene Sichten und Wahrnehmung. In der Fortsetzung, an der ich aktuell schreibe, versuche ich einen Kompromiss zwischen möglich einfacher Sprache und Details zu finden.

Um zu schauen „was geht, habe ich in den letzten Tagen einige Schreibübungen gemacht. Eine davon gefällt mir so gut, dass ich sie hier dokumentieren möchte. Was daraus wird weiß ich noch nicht. Ich habe Lust darauf den Text weiterzuentwickeln.

 

 

 

Auf eine Zigarette mit fünf Romanfiguren

Ihm stieg eine Duftwolke aus Curry und Ingwer in die Nase als er die Tür des AZ aufstieß. Die Akustik überwältigte ihn für einen Moment. Unzählige Gespräche erzeugten ein stetiges Summen das den Raum ausfüllte und die Musik aus den Boxen im hinteren Bereich fast komplett überlagerte. Sein Blick wanderte über die Anwesenden und blieb schließlich auf einer Sitzecke im Schatten eines Pfeilers hängen. Zwei Frauen und zwei Männer saßen sich gegenüber. Alle vier beugten sich übe den Tisch um sich besser unterhalten zu können. Er steuerte auf sie zu. „Martin!“ Die Frau mit blonden Haaren drehte sich zu ihm um und umarmte ihn zur Begrüßung.“ Hi Anna!“ Er löste sich von ihr und umarmte die Frau neben ihr. Dann wandte er sich den beiden Männern zu um sie kurz zu umarmen. „Alles gut bei euch?“, fragte er und quetschte sich zwischen sie auf das Sofa. „Geht so.“, sagte Anna. Sie spielte nervös an einem Flyer auf dem Tisch zwischen ihnen herum. „Was ist denn los?“, fragte Martin. „Das fragst du ernsthaft? Hier schwappt gerade eine Welle offen gezeigtem Rassismus durchs Land, die Anschläge auf Geflüchtetenheime steigt rasant an und wir sitzen hier rum und tun nichts!“ Martin kramte in seiner Gürteltasche nach einer Packung Zigaretten und musterte die vier. Er schwieg. Thea setzte zu einer Erklärung an. „Anna meint glaube ich das sich bei uns seit fast einem Jahr nichts getan hat. Wir haben uns nicht weiter entwickelt. Genau genommen haben wir seit einem halben Jahr gar nichts mehr gemacht. Wir, also unsere Geschichte wurde einfach zwischen zwei Buchdeckel gequetscht und vergessen.“ Martin schnippte an seinem Feuerzeug herum bevor er sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte und sie anzündete. „Im Gegenteil. Du kommst hier rein und das erste was dir auffällt als du uns bemerkst sind Annas blonden Haare, während Lars und Jan hier“, – sie deutete auf die beiden. – „“einfach als zwei Männer beschrieben werden“. Aber klar, dem weiblich wahrnehmbaren Menschen muss natürlich ne optische Eigenschaft hinzugefügt werden.“

Martin blies blauen Dunst in den Raum bevor er antwortete: „In der ganzen Geschichte geht es immer nur um mich. Ich tue dies, ich fühle das. Jetzt gerade kommt ihr mal zu Wort. Ich kann auch nichts dafür das der Autor euch beide so oberflächlich angelegt hat, dass er euch durch optische Eigenschaften unterscheiden muss. Das sagt doch was aus. Über ihn.“ Ein Aschebrocken löste sich von seiner Kippe und landete auf dem Tisch. Jan beugte sich vor und fegte ihn vom Tisch. „Das kann ich über uns beide auch sagen. Wir sind einfach die beiden Typen im Hintergrund. Der eine macht Ermittlungsausschuss und der andere Info-Struktur. Wir tauchen nur am Rande auf wenn es dem Autor für die Handlung nutzt oder irgendwer ein paar blöde Sprüche machen soll.“

Ihr Gespräch wurde kurz von einem Klirren unterbrochen. Jemand hatte ein Glas fallen gelassen und erntete dafür höhnisches Gelächter.

„Ja. Komischer Typ. Der schreibt da fast fünf Jahre an uns herum, bringt uns komplett durcheinander, lässt uns lieben, leiden und schließlich euphorisch zurück und kümmert sich dann einen Scheißdreck darum wie es mit uns weiter geht.“
„Die Drohungen gegen Marie vergessen, Martins erste Demoerfahrungen einfach so stehen gelassen und wie er jetzt Antifaschismus sieht habe ich immer noch nicht ganz verstanden.“. Jetzt regte sich auch Lars auf.

Martin räusperte sich. „Gerade jetzt gäbe es auch viel zu erzählen und zu erklären. Diese ganzen -GIDAs, warum antirassistische Arbeit ein linksradikales Kernthema ist, wie sie aussieht und was sich daraus schlussfolgern lässt. Aber ich glaube er hat gerade selber viel zu tun. Wie wir alle. Irgendwie hat uns das ja doch alle ziemlich geschockt. Also dieser rassistische Ausbruch und die Frage was das jetzt bedeutet und wie es politisch weiter gehen kann. Ich glaube aber er wird bald weiter schreiben. Dann geht es auch mit uns weiter.“

Er drückte seine Zigarette aus.

„Ich hoffe nur das dauert nicht wieder fünf Jahre. Dann bin ich nämlich endgültig zu alt für diesen Scheiß.“

Angst

Ich habe Angst. Mir das einzugestehen war anfangs schwierig. Irgendetwas gab es immer zu tun. Mit irgendetwas konnte ich mich immer ablenken. Doch nun fühle ich es deutlich.

Ich habe Angst.

Ich habe Angst vor einer rassistischen Mobilisierung der Gesellschaft.

Ich habe Angst vor einem politischen Rechtsruck.

Ich habe Angst davor, dass rassistische Parolen und Thesen salonfähig werden.

Ich habe Angst davor, dass rassistische Gewalttaten im aktuellen gesellschaftlichen Klima ermuntert werden.

Ich habe Angst davor, dass in einer Hysterie weitere Überwachung und Kontrolle staatlich durchgesetzt werden.

Ich habe Angst davor, dass sich der Egoismus und die Entsolidarisierung weiter verbreiten.

Ich habe Angst davor angegriffen zu werden, weil ich dagegen ankämpfe.

Ich habe Angst davor Gewalt einzusetzen um mich oder andere schützen zu müssen.

Und trotz dieses Angst – oder gerade deswegen kann und will ich nicht wegsehen. Kann nicht weglaufen oder mir etwas schönreden.

Angst, dass habe ich mal gelernt, ist ein Schutzreflex. Eine Warnung.

Aber vor was warnt sie mich nun?

Vor einigen Wochen stand ich vor einer Polizeikette und hatte Angst. Eine andere als die, die ich jetzt spüre. Mir schlotterten die Knie. Wortwörtlich. Ich realisierte die Angst, atmete tief durch und sah die Bilder und Eindrücke der letzten Wochen und Monate vor mir. Ich spürte die alte Wut in mir hochkochen und trat dann nach vorne. Meine Beine hörten schlagartig auf. Noch bevor ich begriffen hatte, bewegte ich mich und tat genau das wovor mich meine Angst warnen wollte.

Angst ist überwindbar. Angst ist nur das Innehalten bevor Mut und Wut wiederkommen.

Ich habe damals da auf dem Acker meinen Helm verloren & Ein Aufruf an „die Alten“

„Ich habe damals da auf dem Acker meinen Helm verloren.“ – Als die Person diesen Satz sagt, bin ich elektrisiert. Gerade sprachen wir über den Widerstand gegen das AKW-Brokdorf. AKW-Gegner, nun das war er. Das ist er. Das ist für mich nichts neues. Auch das er an den großen Anti-AKW-Dmeos teilgenommen hat, wusste ich. Aber mit Helm? Das setzt einiges voraus. Er redet darüber nicht weiter, übergeht Nachfragen. Ab einem bestimmten Punkt blockt er ab. Warum? Ich sehe ihn nun in einem anderen Licht. Da steckt mehr dahinter. Warum er wohl nicht darüber redet? Etwaige Straftaten sind mittlerweile verjährt, sein Charakter und seine Einstellungen haben sich geändert. Sein Blick auf die Welt ist nüchterner geworden. Wieso also nicht über die Zeit reden, die ihn damals geprägt hat?

Auch spätere Nachfragen bringen keinen Erfolg. Lediglich Andeutungen am Rande von anderen Gesprächen. Nach und nach setzt sich für mich ein Puzzle zusammen, dass viele Lücken aufweist.

Ich war versucht diesen Text mit einem längeren Absatz darüber zu beginnen, dass ich merke das in meinem politischen Umfeld ein Generationswechsel stattfindet. Der zweite den ich miterlebe. Das diese neue Generation die gleichen Fehler macht wie ich damals, zum Beispiel dass sie weniger sensibel mit Fotos umgehen. #GenerationDemoselfie. Aber das wäre am Thema vorbei.

Diese Feststellung hat vor einiger Zeit für mich etwas anderes ausgelöst. Das Interesse für autonome Geschichte. Ein Kapitel der linksradikalen Bewegung über das bisher kaum geschrieben wurde.
Wir alle kennen die Berichte der Widerstandskämpfer aus der Weimarer Republik und aus der NS-Zeit. Spartakusaufstand, Matrosenaufstand, Rote Kapelle, Geschwister Scholl. Wir alle kennen die Berichte aus der Zeit der RAF, die beinahe popkulturellen Status erreicht hat: Baader-Meinhof-Komplex, Zeitzeugeninterviews mit Claudia Roth und Joschka Fischer. Die APO, die sich bis ins letzte Atom spaltete oder den „Marsch durch die Institutionen“ antrat.

Glaubt man dem Schulunterricht, hörte an diesem Punkt die radikale Linke auf zu existieren. Friedens- und Anti-AKW-Bewegung werden den Schülern eher als „Bürgerbewegungen verkauft.“

Dann lange Zeit nichts und aus heiterem Himmel rassistische Pogrome und und eine Zivilgesellschaft die Kerzen haltend den Rechtsextremismus besiegt.

Je häufiger ich mit den jüngeren Genoss*innen rede, um so mehr sehe ich, dass ihnen ein Bewusstsein für die letzten 35 Jahre linksradikaler Bewegung fehlt.

Auf der anderen Seite sehe ich ältere Genoss*innen, die über diese Zeit nicht reden, oder verleugnen, dass sie Teil von Hausbesetzungen, Recherchegruppen, Antifa-Schutzstrukturen oder militanten Demonstrationen waren.
Nur selten sprechen diese Menschen offen über „ihre Zeit“, ihre Fehler, ihr handeln – aus dem wir so viel lernen könnten – Das ein (Selbst)Bewusstsein für die Strukturen schaffen könnte.*

Diese jüngere Generation bewegt sich wie selbstverständlich in den Squats und Freiräumen, die einst von dieser alten Generation erkämpft und verteidigt wurde, sie führt die gleichen Diskussionen wie „die Alten“ – ohne von ihrem Diskussionsprozess zu profitieren.
Sie bewegt sich ohne ein Bewusstsein an den Orten, an denen einst große Proteste stattfanden, an denen Menschen aus der alten Generation für ihre Ideale ihr Leben ließen.

Für eine linksradikale Erinnerungskultur! Der Blick nach vorne fällt leichter im Bewusstsein was hinter einem liegt!

(Ja, dieser Text darf und soll als Aufforderung an „die Alten“ verstanden werden, mit den „Kids“ ins Gespräch zu kommen und die eigene Geschichte aufzuschreiben!)

*Ausnahmen: Geronimo – Feuer und Flamme I / Feuer und FlammeII

http://www.nadir.org/nadir/archiv/Diverses/pdfs/geronimo_flamme.pdf

http://www.nadir.org/nadir/archiv/Diverses/pdfs/geronimo_flamme2.pdf

Das Projekt „Autonome in Bewegung“ http://autox.nadir.org/

Bernd Langer – „Operation 1653“ / Sven Regener „Neue Vahr Süd“ (Belletristik)

„Es ist 2015…“

„Es ist 2015…“

Ich tue mich schwer mit der Einleitung zu diesem Text. Eigentlich bin ich ziemlich sprachlos. Der Schock sitzt tief. Als ich vor einigen Jahren begann Antifa-Arbeit zu machen waren mir die Dimensionen nicht bewusst. Ich erlebte einen Niedergang der Antifa-Gruppen, Paralyse und Perspektivlosigkeit. Antifa-Arbeit, das war für mich damals das Engagement gegen die lokalen Nazi-Strukturen, die sich hier gebildet hatten. Den Blick über den Tellerrand machte ich damals nicht. Meine Erfahrungen aus diesen Jahren gibt es an anderer Stelle zu lesen.

Ich erlebte eine große Mobilisierung. Mehr als 5.000 Nazis in Dresden, Morde an politischen Gegnern, Einschüchterungsversuche, später dann die Sarrazin-Debatte. Aber das wirkte überschaubar. Auf eine zunehmend rassistische Stimmung in der Gesellschaft hinzuweisen führte dazu belächelt zu werden. Auch als ich diese These mit den „Mitte“-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung belegte, wurde ich belächelt.

Vermeintliche „Deutschenfeindlichkeit“
Der gesellschaftliche Tenor: „Das wird man doch noch sagen dürfen!“

2011 flog die NSU auf. Erschrecken. Einzeltäter-Debatte. Akten geschreddert. Staatliche Beteiligung kaum abstreitbar, aber schwer zu belegen. Nach und nach wurde deutlich das der NSU keine isolierte Zelle war, sondern ein bundes- eventuell europaweites Netzwerk.
Noch immer läuft die Asyldebatte. – rassistische Stimmungsmache seitens der CSU/CDU (https://www.youtube.com/watch?v=eJFHiJbYjEY)

Prozesse gegen Antifaschist*innen wegen Dresden. §129a-Verfahren, Massenspeicherung von Handydaten, Landfriedensbruch-Vorwürfe gegen Pfarrer und Abgeordnete.

Europa- und Weltmeisterschaften im Männerfußball. Patriotismusdebatten. Immer wieder Meldungen über verletzte „nicht-deutsche“ auf Fanmeilen.
„Man wird doch wohl noch stolz auf Deutschland sein dürfen!“

2013 dann der Anstieg der Zahlen Geflüchteter. Asyldebatte 2.0. Diskussionen um die Unterbringung.
Erste rassistische Mobilisierungen im Form von „Nein zum Heim“-Bewegungen. Marzahn-Hellersdorf. Nachwirkungen der Sarrazin-Debatte.
Die Refugeemovement entsteht – Lampedusa in Hamburg, Hungerstreik und Oplatz in Berlin, Würzburg, Wien.
Als 2.000 Refugees im Meer vor Lampdeusa auf der Fluchtertrinken, scheint es das erste mal ein Stocken zu geben. Schnell aber wird über eine bessere Abschottung der Festung Europa diskutiert.

Politischer Tenor: „Man muss mit den Anwohnern reden, ihre Ängste ernst nehmen.“

2014 – Überall sprießen rassistische „Bürgerbewegungen“ aus dem Boden. CDU-Wähler demonstrieren an der Seite von resignierten Bürgern und Neonazi-Strukturen.

Im Herbst  formuliert Neonschwarz:

Es ist 2014
Hat sich viel verändert eigentlich nicht wirklich
Hellersdorf, Schneeberg, Luckenwalde, Güstrow
Germering, Trier, Wolgast und Duisburg – was?
Die Liste ist noch länger
Wir rufen auf zu eskalieren wenn sich nicht was ändert
Weil die Scheiße passiert flächendeckend
Es wird Zeit dass wir paar Gesetze brechen
Vater Staat mag das nicht, Politik im Landtag
Per Handschlag auf dem Weg zum Brandanschlag
Refugees welcome und bringt die Familie
In der Krise, Bürgerinitiativen
Agieren unterm Deckmantel
Kein Flüchtling lebt wie die Made im Speckmantel


Diverse Stiftungen führen Statistik über die Anschläge auf Geflüchtetenunterkünfte. Die Zahl steigt im Jahr 2014 rasant an.
Die AfD verbucht immer mehr Erfolge, wird zum politischen Sprachrohr einer intellektuellen Rechten.

Aus dem nichts taucht ein neues Phänomen in der Öffentlichkeit auf. „Islamkritik“ – Ethnopluralismus. Ein Konzept über das die intellektuelle Rechte Europas seit Jahren diskutiert. Ein „Europa der Völker“, das sich nicht durch Volkszugehörigkeit, sondern gemeinsame Werte und Traditionen gegen eine Bedrohung des Islams abgrenzt, ist der Gedanke dahinter.

Wir erleben „Hooligans gegen Salafisten“ – einen gewalttätigen rassistischen Mob in Köln. Aus der Demonstration heraus werden Wohnungen und ein asiatisches Restaurant angegriffen. Allseits mediale Empörung. Die erfolgreiche Wiederauflage in Hannover scheitert an der staatlichen Repression.

Der nächste Testballon der neu rechten Bewegung wird zum Erfolg. Zum Ende des Jahres mobilisiert ein rechts-konservatives Netzwerk unter dem Titel „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ Tausende. 2014 erlebt die BRD die größten Aufmärsche rassistischen und rechtsextremen Gedankengutes seit den 40er-Jahren. Dresden schafft es zum Jahreswechsel auf mehr als 20.000 Demonstranten. Anfang 2015 werden es noch mehr. Am Rande der sich ausbreitenden „-GIDA“-Demos kommt es immer wieder zu Angriffen auf Geflüchtete, Migranten und Antifaschistinnen. So in Köln, Düsseldorf, Dresden, Leipzig, Würzburg und Hannover.
Die Gegenmobilisierung verläuft erst schleppend. Der „Zivilgesellschaft“ schafft es nur vereinzelt diese Demonstrationen zu stoppen. Der Fokus liegt auf einer symbolischen Gegenbewegung. Symbolische Zeichen, Selbstvergewisserung.

Anfang 2015. Während 25.000-28.000 PEGIDA-Anhänger durch Dresden ziehen, trauen sich Refugees nicht aus ihrer Unterkunft. Einer verlässt am Abend die Wohnung. Am Morgen wird er blutüberströmt auf der Straße gefunden. Tot.
Seine Freunde berichten von sichtbaren Verletzungen. Die Mordkommission ermittelt.

https://www.youtube.com/watch?v=23ThdwtZlbM

(Alle Angaben und zeitlichen Einordnungen ohne Gewähr.) – Einzelnachweise liefere ich gerne nach.

„Es ist die Wut die wir teilen, aber die Liebe die uns verbindet“ -Trivia/Making of Teil 1

Wie ich gestern schon schrieb, wird das Manuskript nun gedruckt und wir in spätestens zwei Wochen vorliegen. Für die Zwischen- und Wartezeit habe ich mir etwas ausgedacht. In möglichst regelmäßigen Abständen möchte in der Wartezeit einen Einblick in den Entstehungsprozess des Buches geben.  Hier geht es nun los mit

Teil 1!

Die ersten Entwürfe für die Geschichte schrieb ich Ende 2008. Damals wurde ich beeinflusst von Erlebnissen und Geschehnissen in meinem Wohnort. Ich war damals noch nicht lange politisch aktiv und bewegte mich in einer anderen Subkultur. Ein Einfluss der leicht erkennbar ist, wenn wir auf die ersten Zeilen des Entwurfs von 2008 schauen:

In den letzen Monaten hatte sich der Kampf zwischen rechten und linken Gruppen verstärkt. Alles hatte mit der Ankündigung der stärksten rechten Partei begonnen, ein Bildungszentrum für Heimatgeschichte in der Innenstadt von Hannover zu errichten. Wie zu erwarten, hatte sich ein breites Bündnis aus Parteien, Gewerkschaften und Organisationen zusammengefunden und gegen den Bau dieses Zentrums demonstriert.

Mark schloss die Tür hinter sich und schlüpfte hinaus in die Nacht. Ein kühler Wind empfing ihn auf der Straße, während er sich auf den Weg zu Straßenbahn machte. Mit jedem weiteren Schritt den er machte, fühlte er sich leichter. Mit jedem weiteren Schritt ließ er ein weiteres Stück seiner Probleme hinter sich. Als er die Haltestelle erreichte hätte er beinahe hüpfen können. Er lehnte sich an die kalte Glaswand des Wartehäuschens und blickte an sich hinab. Die dunkle Jeansjacke war eng, saß aber an der Taille richtig. Das helle T-Shirt darunter ragte ein paar Zentimeter hinaus.  Er zupfte es am Hosenbund zu Recht und kontrollierte dann den Gürtel. Der silberne Totenkopf, der die Gürtelschnalle verzierte, blitzte im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos grell auf. Sein Blick streifte den Saum seiner Hose und blieb dann an den dunklen Stiefeln hängen. Seine Neuanschaffung. Er war gespannt was die anderen darüber sagen würden.  Schon von weitem konnte er die Bahn hören. Sie bog um die Ecke und blieb dann quietschend in der Station stehen. Mark stieg ein. Intuitiv prüfte er die anderen Fahrgäste. Ein Rentnerpaar, einige Punks und eine Mutter samt kleiner Tochter. Mark ließ sich in einen Sitz fallen und kramte seinen Mp3-Player heraus.

Trivia Teil 2 folgt in den nächsten Tagen. Habt ihr Vorschläge oder Fragen zum Text oder der Entstehung? Dann immer her damit!

Bis ich so mutig bin wie du brauch ich noch lange

„ich lauf den Bahnsteig lang, flankiert von Polizei. Als Musikant bist du nicht besser als ein Dieb.

Doch du läufst nebenher und schreist die Bullen an. Ich kenn dich nicht, doch danke dir dafür.  Manchmal wartet man Wochen lang auf Momente so wie den und Tränen tropfen nass von meiner Wange.  Ich denk an dich du alte Frau und denk an deine Wut. Bis ich so mutig  bin wie du brauch ich noch lange…“

 

– Dies ist ein Ausschnitt aus einem Lied von Konny. Er beschreibt daran Reaktionen auf seine Musik als politischer Straßenmusiker und die Begegnung mit einer alten Frau, die ihm Kraft gibt.

 

 

Ein Abend in der Stadt. Transparente hängen aus den Fenstern eines Altbaus. Die Straße davor ist mit Flatterband abgesperrt. Cops in Kampfanzügen stehen auf der Straße. Davor eine Menschenmenge. Die Stimmung ist aufgeheizt. Vor dem Haus räumen Cops eine Barrikade aus Sperrmüll beiseite. Sprechchöre übertönen ihre Versuche ins Haus zu gelangen.  Ein kleineres Gerangel heizt die Stimmung weiter auf.  Gesichter verschwinden hinter Tüchern  und in Kapuzen.  Flaschen fliegen.  Du stehst vor uns, unberührt und schreist die Cops an. Kommst  ihnen immer näher. Deine Arme gestikulieren wild, deine Augen funkeln voller Wut.  Die Cops setzen Pfefferspray ein. Leute ziehen sich zurück. Noch immer schreist du die Cops an, streichst dir dein langes graues Haar aus dem Gesicht, findest ermutigende Worte für die Menschen um dich herum.

Als die Cops vorstürmen bleibst du einfach vor ihnen stehen während wir zurückweichen und uns neu sammeln.

„Danke dir dafür! Bis ich so mutig bin wie du, brauch ich noch lange.“, hallt es in meinem Kopf.